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Schöpfung und Neugeburt

2. September 2018

Das morgendliche Handwasch-Ritual im Jüdischen Brauch

Die Taufe und ihre Symbolik ist von großer Bedeutung. Und zwar nicht nur im christlichen Brauch als ein äußerliches Zeichen, sondern als etwas Prinzipielles, als eine grundsätzliche, jeden Lebenslauf betreffende Möglichkeit der Neu-Werdung. Das erste Mal im Leben ist das dann der Fall, wenn der Entschluss zur Umkehr aus dem Verstricktsein in diese Welt erstmals bewusst gefasst ist, bzw. wenn die ersten Schritte in diese neue Richtung getan werden. Hierfür steht insbesondere das Prinzip der ‚Taufe des Johannes‘, der ‚Wassertaufe‘ im christlichen Brauch (siehe dazu auch den entsprechenden Artikel der Rubrik ‚Grundlage‘).

Nun ist aber dieser ‚Wille zur Umkehr‘ nicht etwas, das einmal in Vollendung ‚getan wird‘ und dann für den Rest des Erdenlebens ‚erledigt‘ ist. Vielmehr gilt es, in jedem Moment aufs Neue diese Bereitschaft zur Umkehr zu erleben, sich in jedem neuen Moment (oder jedenfalls ’symbolisch‘, ‚pars pro toto‘, an jedem neuen Morgen, an dem man erwacht) als ’neugeboren‘ zu fühlen: alles bisherige kann von jetzt an hinter sich gelassen werden, alle Fehler die man gemacht hat, können in Zukunft vermieden werden, alle langjährigen schlechten Gewohnheiten können im Prinzip von jetzt auf gleich abgelegt werden. Ein Neuanfang ist in dieser Welt der ‚linearen Zeit‘ immer möglich, solange man handelnd, solange man WÄHLEND in dieser Welt existiert.

Diese völlige Umkehr, dieses gänzliche Hinter-Sich-Lassen von allem bisherigen, ist nichts anderes als eine NEUGEBURT, eine Neu-Schöpfung desjenigen Menschen, der die ‚Buße‘ tut. Diese Buße, dieser Wille zur Umkehr, muss zur grundlegenden Haltung im Leben werden, um in jedem Moment aufs Neue, aus dem Unbewussten heraus in den Alltag hineinzuwirken. Wenn man all dies nur auf den einen Moment reduzieren will, in dem man erstmals BEWUSST Umkehr angestrebt (und vielleicht auch schon in diesem oder jenem Bereich vollzogen) hat, dann missachtet man ein Schöpfungsprinzip: dass nämlich das Ewige sich in der Zeit gerade durch die ständige Wiederholung manifestiert. Wie alle Kreisläufe der Natur aus einem ständigen Geboren-Werden, Sterben und Wieder-Geboren-Werden bestehen, aus einem Kommen und Gehen von Generationen der selben Art und Gattung – so erweist sich WAHRE Umkehr auch erst darin, dass sie in immer neuem Alltagskontext dieselbe Grundhaltung wieder und wieder neu verwirklicht im Leben des Umgekehrten, Umkehrenden.

Im selben Sinne ist es die Sichtweise der jüdischen Überlieferung, dass der Ewige die Schöpfung nicht ‚irgendwann einmal am Anfang damals‘ geschaffen hat, und diese Schöpfung seitdem wie ein totes Uhrwerk ihren vorgezeichneten Gang geht, während sich ihr Schöpfer elegant in den Hintergrund zurückgezogen hätte … Nein, vielmehr schafft der Ewige seine Schöpfung in jedem Moment NEU, Seine LIEBE zu Allem ist es, die die Schöpfung in jedem Moment aufs Neue entstehen lässt – denn die Schöpfung ist keine ‚Konstruktion‘, wie wir Menschen uns das vielleicht vorstellen wollen. Die Schöpfung ist gewachsenes, wachsendes Leben, das aus dem Ewigen immerzu neu hervorfließt, hervorquillt, als aus der Quelle geschöpftes ‚Wasser‘ (ein Begriff, der ja immer auch für das ‚Fließen von Zeit‘, für ‚Dauer‘ als Geschenk steht, das uns nicht alles nur ‚auf einmal‘ zu schlucken zwingt, sondern uns den ‚langen Weg‘ ermöglicht, die Welt, das Leben in allen Dimensionen auszukosten, ‚von Ewigkeit zu Ewigkeit‘ letztendlich; denn auch die ‚Ewigkeit‘ der ‚Kommenden Welt‘ beinhaltet SELBSTVERSTÄNDLICH auch Zeit und Raum – nur eben ‚ein Spiralrund höher‘ erlebt, leichter, befreit von der Schwere DIESER Welt, wie wir sie in unserer Beschränktheit als Menschen wahrzunehmen pflegen).

Im jüdischen ‚Verhaltenskodex‘ schlägt sich diese Auffassung des Ewigen, als ein sich in der Zeit durch unendliche Wiederholung Offenbarendes, im Bezug auf die ‚Buße‘ nun unter anderem darin nieder, dass der Mensch sich morgens jedes Mal wieder direkt beim Aufstehen die Hände mit Wasser übergießt, um so seine prinzipielle ‚tägliche Neugeburt‘ zu zelebrieren.

Eine ausdrücklich ‚praktische‘ Begründung für das morgendliche Händewaschen gibt die ausschlaggebendste Darstellung des jüdischen ‚Verhaltenskodexes‘, der sogenannte ‚Schulkhan Aruch‘ (‚Gedeckter Tisch‘), wie folgt an (siehe etwa im Kitzur Schulchan Arukh von Schlomo Ganzfried das Kapitel 2, speziell Paragraph 1, sowie Ergänzungen in 4+5):

Zunächst wird auf die priesterliche Praxis verwiesen, dass sich vor dem Dienst die Hände gewaschen werden (sich auf Psalm 26,6 berufend: ‚Ich wasche in Unschuld meine Hände und gehe um deinen Altar herum, Ewiger‘). Auch, dass jedes morgendliche Erwachen des Menschen ein ‚Neu-Geschaffenwerden zum Dienst des Schöpfers‘ ist, wird ausdrücklich angemerkt (beides schon in den ersten zwei Sätzen des ersten Paragraphen).

Und dann wird eine noch sehr konkrete praktische Dimension ausgeführt: Wenn des Menschen ‚Neschamah‘ (~ ‚göttlicher Seelenhauch als Kern des individuellen Wesens‘) nämlich den Körper verlässt, während er schläft, ergreift ein Geist der Unreinheit (‚ruach ha-tum’ah‘) Besitz von diesem, bzw. wörtlich: ‚ein Geist der Unreinheit lauert auf seinem Körper‘ (’schurah ‚al gupho‘). Kehrt beim Erwachen dann die Neschamah wieder zurück, vertreibt sie diesen Geist der Unreinheit aus dem gesamten Körper, bis auf die Fingerspitzen. Diese müssen daher unbedingt mit Wasser abgewaschen werden, um diesen ‚Zustand der partiellen Besessenheit‘ zu heilen. Das Wasser trägt danach einen ‚Geist des Bösen‘ (‚ruach ra’ah‘) und soll daher nicht weiter benutzt werden, und nur dorthin weg gegossen werden, wo kein Mensch darüber läuft (siehe Kitzur Schulchan Arukh Kap. 2, Par. 3+4).

Was hat dies nun zu bedeuten, wenn wir nicht von stumpfem Gespenster-Aberglauben ausgehen wollen, welcher eine solch plastische Beschreibung hervorruft?

Zunächst: Die Neschamah ist dasjenige im Menschen, das ihn zum ‚Gleichnis Gottes‘ macht. Schließlich ist sie es, die dem Adam von Gott eingehaucht wird, auf dass er ‚zur lebendigen Seele‘ werde (Genesis 2,7). Das Wort ‚Neschamah‘ bedeutet wörtlich auch tatsächlich in etwa ‚Atem, Odem‘, kann laut Überlieferung jedoch zudem als ‚lasst uns Namen geben‘ übersetzt/gedeutet werden, was auf die Fähigkeit des Menschen hinweist, Dinge und Wesen zu ‚benennen‘, also auf die Tatsache, dass er ‚mit dem Wort begabt‘ ist. So wird die Neschamah dann auch als ‚das Wort Gottes‘ selbst verstanden, das dem Menschen als dessen ihn belebender Atem geschenkt ist, wodurch er als einziges unter den Geschöpfen diese Wunderkraft des Schöpfers hier auf Erden verwalten darf, und dadurch mit dem Schöpfer gewissermaßen ‚ins Gespräch kommt‘, indem der Mensch auf die ihm zugeteilten Lebensumstände seines gottgegebenen Schicksals mit seinen täglichen Handlungs-Entscheidungen im Leben ‚antwortet‘.

Die ‚Finger‘ nun sind die konkreten Auswüchse der ‚Hände‘, des ‚Handelns‘ also des Menschen. Und die FingerSPITZEN dann wiederum das alleräußerste davon.

Das fließende Wasser ist die ‚Zeit‘, die vergeht, bzw. allgemeiner ist es ‚unsere äußerliche Existenz als räumlich-zeitliche Wesen‘, wie sie ständig in Bewegung ist, ständig ‚am vergehen‘ ist.

Die Beschreibung des Schulchan Arukh, erzählend von jenem ‚unreinen Geist‘, der sich ‚lauernd auf den Körper legt‘, und der durch die zurückkehrende Neschamah nur ‚bis in die Fingerspitzen zurückgedrängt‘ werden kann, ließe sich also für heutige Ohren vielleicht andeutungsweise etwa folgendermaßen ‚übersetzen‘:

Das Konkrete, Äußerliche in unserem Handeln ist als einziger Aspekt unserer individuellen Existenz nicht ‚automatisch‘ gereinigt/geheilt, sobald das Wort Gottes in uns ‚den wahren Menschen (wieder) erweckt‘; dieses äußerliche Handeln muss daher erst ‚im Fließen der Zeit unseres Alltags‘ gereinigt werden, die ‚bösen Geister‘ der ‚Nachtwelt‘, des Untätigseins, der Bewusstlosigkeit, müssen hinaus gespült werden im bewussten ‚Antreten des Priesterdienstes‘ im Alltagsleben.

Und das also jeden Moment aufs Neue.

Die allmorgendliche Routine im Judentum (wo dieses noch vom guten Geist beseelt ist und weder einer vermeintlichen ‚Aufklärung‘ anheimgefallen, noch in die Wirrheit eines chauvinistischen Fanatismus abgeglitten ist …), seine Hände als nahezu allererste Handlung am Tag mit Wasser zu übergießen, ist in gewissem Sinne außerdem ’nur‘ eine Symbolhandlung für das eigentlich gemeinte ‚Tauchbad (Miqweh), in das man komplett (dreimal) untertaucht, um so das selbe Prinzip zu verkörpern, wie es die christliche Taufe, bzw. jedenfalls der erste Aspekt von dieser, die ‚Taufe des Johannes‘, leistet: das völlige Eintauchen in die Zeitlichkeit, das dort Begraben-Werden, das Sterben, und das Wiederauferstehen aus dem ‚Zeit-Grab‘ zum Leben in der Sphäre des Ewigen, dem ‚Trockenen‘, bzw. ‚an der Luft‘, ‚von Luft umweht‘ (und ‚Luft‘ = ‚Ruach‘ = ‚Geist‘; siehe wiederum den Artikel ‚Taufe‘ in der Rubrik ‚Grundlage‘).

Nachdem ich also beim Aufwachen morgens den Ewigen still als mein ’ständiges Gegenüber‘ vergegenwärtigt habe (’schiwiti JHWH le-negdi tamid‘, Psalm 16,8a) und dann als erste Äußerung meiner Stimme das Dankeswort gesagt habe dafür, ‚dass der lebendige und beständige König mir in seinem Erbarmen meine Neschamah zurück in mich hinein gebracht hat, da seine Treue so groß ist‘ (ein traditioneller Dankesspruch, abgeleitet von Klagelieder 3,22+23, für näheres siehe z. B. Kitzur Schulchan Arukh Kapitel 1, Paragraph 2) – ist also meine erste eigentliche HANDLUNG des neuen Tages eben dieses ‚Händewaschen‘, das Zelebrieren des Neugeboren-Seins, insbesondere auf die Hände, also das ‚Handeln‘ bezogen, dass mir auch an diesem neuen Tag wieder ermöglicht wird, alles völlig neu anzugehen. Hallelujah!

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