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Von Lilith zu Na’amah

Von Lilith zu Na’amah – die Wiederherstellung des Ursprünglichen Menschen

Eine heilungsorientierte mystisch-magische Deutung des Lilith-Mythos nach den jüdischen Quellen

Lilith bezaubert uns seit Jahrtausenden  – ist sie nun die gefährlich-dämonische Nachtfrau oder doch die Entfesselung allen heilsamen weiblichen Potentials? Oder, wie so oft, doch eigentlich beides, je nachdem?! In vorliegender Abhandlung soll dieser Fragenkomplex ausführlich erörtert werden und der Fokus soll dabei auf einer versöhnlichen Deutung der Lilith-Mythe liegen. Doch die Risiken des Umgangs mit der Großen Dunklen Göttin sollen keineswegs übergangen werden und so starten wir unsere Reise ganz traditionell, mit einer gängigen volkstümlichen Legende zu dieser „Mutter aller Dämonen“ … Jedoch: Bei aller Konsistenz der Argumentation, die sich im Folgenden ergeben wird, sei immer betont, dass die Große Lilith sich dennoch nicht auf all dies beschränken lässt. Diese Abhandlung erhebt also keinerlei Absolutheitsanspruch. Lilith offenbart sich einem jeden von uns nur in dem Maße, wie wir es tragen können. Für Na’amah – die Tochter Liliths und gleichzeitig ihr „angenehmes“ Gegenstück – scheint dasselbe zu gelten.

  1. Adams widerspenstiges erstes Weib

Die heute wohl bekannteste Geschichte zu Lilith zeichnet ihren Ursprung und ihr Verhältnis zu Adam, dem ersten Menschen, jedenfalls zunächst eher in einem negativen Lichte. In der pseudepigraphischen Schrift „Alphabet des Ben Sira“ findet sich diesbezüglich etwa folgende Erzählung:

Nachdem Gott Adam erschaffen hatte, der allein war, sagte er: „Es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein.“ Dann schuf er für Adam ein Weib aus der Erde, wie er Adam selbst erschaffen hatte, und nannte sie Lilith. Adam und Lilith fingen sofort an zu streiten. Sie sagte: „Ich will nicht unten liegen“, und er sagte: „Ich will nicht unter dir liegen, sondern nur oben. Denn du taugst nur, um in der untersten Stellung zu sein, während ich der Überlegene sein soll.“ Lilith antwortete: „Wir sind einander gleich, weil wir beide aus der Erde erschaffen wurden.“ Aber sie wollten sich nicht einigen. Als Lilith das sah, sprach sie den unaussprechlichen Namen aus und flog in die Luft.

Adam stand im Gebet vor seinem Schöpfer: „Herrscher des Universums!“, sagte er, „die Frau, die du mir gegeben hast, ist entlaufen.“ Sofort sandte der Heilige, gepriesen sei Er, die drei Engel Senoy, Sansenoy und Semangelof, um sie zurückzubringen. Der Heilige sprach zu Adam: „Wenn sie bereit ist, wiederzukommen, so ist gut, was gemacht ist. Wenn nicht, muss sie jeden Tag hundert ihrer Kinder sterben lassen.“ Die Engel verließen Gott und verfolgten Lilith, die sie mitten im Meer in den mächtigen Wassern einholten, in denen die Ägypter ertrinken sollten. Sie sagten ihr Gottes Wort, aber sie wollte nicht zurückkehren. Die Engel sagten: „Wir werden dich im Meer ertränken.“

»Lass mich!« sagte sie. »Ich wurde nur erschaffen, um Säuglinge krank zu machen. Ist der Säugling männlich, so habe ich acht Tage nach seiner Geburt die Herrschaft über ihn, und wenn er weiblich ist, zwanzig Tage lang.“

Als die Engel Liliths Worte hörten, bestanden sie darauf, dass sie zurückging. Aber sie schwor ihnen beim Namen des lebendigen und ewigen Gottes: „Wenn ich euch oder eure Namen oder eure Gestalten in einem Amulett sehe, werde ich keine Macht über dieses Kind haben.“ Sie stimmte auch zu, jeden Tag hundert ihrer Kinder sterben zu lassen. Dementsprechend sterben jeden Tag hundert Dämonen, und aus dem gleichen Grund schreiben wir die Namen der Engel auf die Amulette kleiner Kinder. Wenn Lilith ihre Namen sieht, erinnert sie sich an ihren Schwur, und das Kind erholt sich.

  • Die Mutter der Dämonen

Andere Versionen der Geschichte sprechen beispielsweise noch davon, dass Lilith eigentlich schon am fünften Schöpfungstag, also vor Adam bereits geschaffen wurde (als eines der Meerungeheuer – sie wird auch mit dem weiblichen Leviathan assoziiert), oder davon, dass sie seit ihrer Flucht vor Adam ständig Dämonen am Erzeugen ist, indem sie sich mit schlafenden Männern in ihren Träumen verbindet (hier ist also der Bezug der Lilith zu nächtlichen Samenergüssen zu sehen – später mehr dazu). Lilith ist also der Urtyp der Vergewaltigten, die sich wehrt, ihrer Pein entflieht und so zur „starken Frau“ wird – dadurch jedoch auch destruktive Tendenzen entwickelt.

Adam bekommt dann also stattdessen die Eva, und zwar nun nicht mehr als eine Frau, die neben ihm (oder gar vor ihm) geschaffen, sondern die „von ihm selbst genommen“ wird, sodass er nun ein sich ihm unterordnendes Weib hat – die verstoßene Lilith dagegen paart sich von da an nach Belieben mit allen möglichen Geistern und Menschen (in den Legenden auch ausdrücklich mit Adam selbst, gegen dessen Willen), aber ihre Kinder aus diesen Zusammenkünften sind stets zum Sterben verurteilt (oder sie tötet sie gar selbst alle) bzw. auf diesem Wege werden daraus die zerstörerischen „Dämonen“ („Schedim“). Dasselbe Motiv in leicht modifizierter Form tritt uns auch in Na’amah, der Tochter Liliths, noch einmal entgegen, nämlich wenn sie mit den gefallenen Engeln aus Genesis 6 die Geister zeugt, die später Salomo beim Tempelbau helfen müssen.

  • Das Weib des Adam Qadmon und die beiden niederen Liliths

Soweit also ungefähr die klassische Sichtweise, die stark von den Dogmen der Religion(en) geprägt ist – eine tiefergehende Perspektive könnte demgegenüber die folgende sein: Lilith ist ein bestimmter Aspekt der weiblichen Seite Gottes, der sogenannten „Sch’khinah“, der „Einwohnung Gottes innerhalb der Schöpfung“. In den Gedanken des Kabbalisten Isaak Luria taucht die Figur der Lilith nämlich auch in einem makrokosmischen Kontext noch vor der Schaffung des ersten Menschen auf – als Aspekt (wörtlich „Weib“) des Adam Qadmon, des ursprünglichen Menschen, des geistigen Archetyps der Menschheit also, der als Ebenbild Gottes eine Art Demiurgen-Funktion für alle Schöpfungen einnimmt und damit als solcher die göttlichen Schöpfungskräfte insgesamt repräsentiert – das „Wort“, den Logos … und auch den „Messias“. Und von diesem „Schöpferwort“, das der Adam Qadmon ist, macht also Lilith einen bedeutsamen Teil aus – einen Teil, der dann aber im Zuge des Schöpfungsgeschehens und des Hinabstiegs des Menschen ins Irdische hinab von der Menschheit abgespalten wird und dadurch zum dämonischen Schatten entartet. Erst „die Weisheit Salomos“ soll einst die Reintegration ermöglichen. Doch dazu mehr zum Schluss dieser Ausarbeitung. Halten wir hier fest, dass auch der Messias also die Lilith umfasst – das Neue Testament und die christliche Überlieferung könnten mit den Geschichten um Maria Magdalena auf diesen Aspekt anspielen.

Mit dem Niederstieg der Menschheit vom hohen geistigen Ideal bis hin zum heutigen Zersplittertsein in die vielen Erdenleiber geht also einher, dass auch die Erscheinung der Lilith Transformationen durchmacht. Laut Luria ist (insbesondere die Erste) Lilith auch als Abizou (oder Abzu) bekannt, was an das griechische Abyssos erinnert und den Abgrund des primordialen Chaos meint, aus dem alle Ordnung geschöpft wird, das aber ohne diese Ordnung ein alles verschlingendes Ungeheuer darstellt – den „Urdrachen“ gleichsam. Aber dieser Urdrache, die erste Lilith, ist ein Teil des Adam Qadmon. Der Urdrache – Tiamat in anderer Tradition (und im biblischen Hebräisch noch als „Tehom(oth)“ in der Schöpfungsgeschichte ganz zu Beginn anzutreffen) – ist damit zwangsläufig eine Art Anti-Gott, der die Ordnung bedroht, sobald er nicht mehr als Teil der Menschheit erlebt wird, sondern als deren Schatten abgespalten und ins vermeintliche Außen projiziert wird. Und nun ist also Lilith schon sofort nach ihrer Genese wieder aus dieser ihrer Herrlichkeit herabgestürzt und wird zur „zweiten Lilith“. Diese jetzt gilt als „Samaels Weib“ (Samael ist einer der Erzengel, aber wird auch als der Satan höchstselbst verstanden; „Samael“, kann auch als „der linksseitige Name einer Gotteskraft“, Schem-EL, interpretiert werden, wenn mit Sin statt mit Samekh geschrieben) und das wird sich so vorgestellt, dass dem Ersten Adam gegenüber (also dem noch männlich-weiblichen, der ganz als Ebenbild der Gottheit am sechsten Schöpfungstag in Erscheinung tritt) auch ein dunkler Schatten desselben entsteht, der ebenso wie Adam dem Himmlischen Urbild in seinem männlich-weiblichen Charakter entspricht und als Samael-Lilith zunächst noch eine Ganzheit war, bevor die Abspaltung von der Menschheit geschah. Kabbalistisch ausgedrückt ist es die Entstehung des Bösen aus einer niederen Emanation des Gottesattributs „Gerechtigkeit“ (wörtlich „Strenge, Stärke“,  das ist die Sephirah „Gevurah“), wodurch die „Andere Seite“ (Sitra Achra) hervorgeht, im westlichen Okkultismus dann noch schematisch weiterentwickelt zu einem Anti-Lebensbaum mit Zehn Qlipoth gegenüber den Zehn Sefiroth. Die dritte Lilith ist schließlich als das Weib des Asmodeus bekannt, also eines weiteren Dämonen, der ähnlich wie Samael als Inbegriff des Satans gilt, aber tendenziell weniger universelle Aspekte des Bösen verkörpert als persönlich-individuelle (Wollust, Gewalt). Die Legende, dass Männer nachts in ihren Träumen von Lilith geritten werden, wodurch aus dem dabei vergossenen Sperma Dämonen gezeugt werden, gehört wohl genau auf diese niederste Ebene der Lilith, als Weib des Asmodeus. Doch auch dieses Niederste hat seine Bedeutung fürs große Ganze – wir werden noch darauf zurückkommen beim Geschehen um Salomos Ring und der Rolle, die Asmodeus dabei einnimmt.

  • Die vier Antlitze Adams und Na’amah, die erlöste Lilith

Vor diesem Hintergrund sei auch kurz auf das Konzept mehrerer „Stufen“ des Adam verwiesen, wie es etwa bei Helena Blavatsky zur Sprache kommt (für die theosophische Sichtweise im Detail siehe jedoch dort). Da ist dann die Rede von vier Adams. Diese könnte man entsprechend mit den Stufen identifizieren, die sich auch aus der jüdischen Überlieferung zu dem Themenkomplex ergeben: zunächst der geistige Urmensch Adam Qadmon, dann der Erste Adam, der noch männlich und weiblich in einem ist, genannt Adam ha-Rischon, als Drittes der männliche Adam mit seiner Frau Eva im Paradies (also nach der Trennung der Geschlechter) und zuletzt der gefallene Adam, wie wir ihn mehr oder weniger heute als physisches Wesen vor uns stehen haben.

Übertragen auf die Lilith-Thematik wäre nun an vierter und letzter Stelle die „erlöste Lilith“ zu nennen, die den gefallenen Adam wieder zum Adam Qadmon macht. Diese „Endstufe“, die „erlöste Lilith“, ist Na’amah – dem Mythos nach die „Tochter von Lilith“ und ihrem Namen nach „die Liebliche“. Außerdem ist sie die Mutter der „geläuterten Menschheit“ nach der Sintflut, denn „Na’amah, die Schwester von Tubalkain“, wird in der jüdischen Überlieferung mit Noahs Frau identifiziert – dessen also, der die berühmte Arche baut, die die Essenz der Menschheit über die verschlingenden Wasser der Zeit rettet. Na’amah ist in diesem Sinne als die Stammmutter ausnahmslos aller heutigen Menschen aufzufassen. Und auch die Königin von Israel, des „auserwählten Volkes“, ist diese Na’amah letzten Endes, trotz ihrer scheinbar so „fremden Herkunft“ (siehe dazu die Geschichte im Midrasch von einer Ammonitischen Prinzessin diesen Namens, die Salomos/Kohelets Frau wird – doch auch dazu später mehr, zur Vollendung dieser Arbeit). Warum das alles so ist, soll im Weiteren eine nähere Betrachtung von Lilith selbst zutage fördern.

  • Die Schutzheilige der Dissoziation

Wer also ist „Lilith“ nun, insbesondere im Unterschied zu Na’amah, die real hier in der Materie wörtlich die „Mutter allen Lebens“ ist (vgl. „Eva“, die in der Bibel genauso bezeichnet wird), während Lilith selbst als „Kindsmörderin“ gilt? Der Name „Lilith“ kommt – wenn als ein hebräischer aufgefasst – von Lajlah, was „Nacht“ bzw. noch  wörtlicher „umschlingen(d)“ bedeutet. Damit ist schon ein Bezug zum Unbewussten/Unterbewussten angedeutet, aber auch zum Träumen der Nacht, wo Vorstellungsbilder aufsteigen, die nicht unmittelbar an der äußeren Wirklichkeit entstehen (sondern „von Lilith inspiriert“ sind). Die These, die hier nun jedoch aufgestellt sei, lautet: Lilith ist auch die „Schutzheilige aller Dissoziierenden“. Der psychische Mechanismus der Dissoziation dient vereinfacht gesagt einem menschlichen Individuum dazu, einer unerträglichen äußeren Situation innerlich, „seelisch“ zu entfliehen, analog zu Liliths „Wegfliegen“ vor Adam. Das so abgespaltene Erleben des Traumas wird dadurch gewissermaßen „von Lilith“ verwahrt bzw. Lilith schirmt uns von diesem Trauma ab, solange wir es nicht integrieren können. Lilith kann somit zunächst als Sinnbild für die menschliche (und im Ursprung gar kosmische) Vorstellungskraft und die Fähigkeit begriffen werden, sich mit deren Hilfe von der äußerlichen Wirklichkeit abzuspalten. Das psychische Phänomen der Dissoziation kann dabei als die höchste Potenz speziell der menschlichen Vorstellungskraft begriffen werden. Je nachdem, von welcher Lilith nun die Rede ist, kann diese Vorstellungskraft also zum Heil oder zur Zerstörung dienen (gleiches gilt für den Willen, der in Adam oder den anderen „Gemahlen“ der Lilith repräsentiert ist). Hier ist dann auch ein deutlicher Bezug zum Thema Magie festzustellen, indem die Vorstellungskraft (neben dem Willen) Hauptwerkzeug für alle magischen Operationen ist. Außerdem kann ein Bezug speziell zur Sexualmagie konstatiert werden, indem die Vorstellungskraft („Licht der Augen“) mit dem Sperma assoziiert ist und der Wille („Blut und Wasser“) mit den Vaginalsekreten. Auf all diese Aspekte von Lilith muss im Laufe der folgenden Seiten sukzessive näher eingegangen werden.

Bei Rudolf Steiner finden sich Aussagen zu den frühesten Zeiten der menschlichen Fortpflanzung, wo er davon spricht, dass in „lemurischer Zeit“ (also noch vor Hinabstieg der Menschheit bis in die dichteste physische Materie, wie wir sie heute wahrnehmen) der Zeugungsvorgang noch nach gewissen Naturrhythmen wie automatisch ablief und die menschlichen Individuen damals während des Geschehens nur eine Art Hüllbild wahrnahmen, das in symbolischer Weise den Vorgang andeutete. Steiner gibt dazu das Bild eines Samens, der ausgeworfen wird und aus dem dann eine Pflanze sprießt. Diese Beschreibung könnte eine Art dissoziativen Erlebens seitens der frühen Menschen während der sexuellen Vereinigung meinen – der eigentliche Vorgang wird dissoziiert und durch ein Vorstellungsbild ersetzt. Und kann nicht vielleicht bis heute dieser dissoziative Faktor beim Zeugungsakt konstatiert werden, insofern der Orgasmus ebenfalls eine Art Abspaltung vom konkreten Erleben der äußeren Wirklichkeit ist?! Zwar mag formal nur der männliche Orgasmus notwendig sein, jedoch scheint der weibliche Orgasmus den Befruchtungserfolg zumindest deutlich zu begünstigen. Auch hier also kann Lilith am Werk gesehen werden, die im entscheidenden Moment für die nötige Offenheit bei den Beteiligten und damit für eine Verbindbarkeit der beiden zusammenfließenden Energieströme von Mann und Frau sorgt. Aus demselben Grund spielt der Moment des Orgasmus in der Sexualmagie die kritischste Rolle während der Operation – denn es ist der Moment, in dem die Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem kurzzeitig überschritten werden kann, wenn das Tor offen ist.

  • Na’amah und ihre gefährlichen Gefährtinnen

Aber: Das durch den Prozess der Dissoziation von der äußeren Wirklichkeit Abgespaltene (auch schon im Falle einer bloßen „Vorstellung“, in die man sich dicht genug einhüllt) muss in jedem Fall für eine erfolgreiche magische Operation (oder für eine erfolgreiche Heilung) in der gewünschten/ersehnten Form dann auch im Irdisch-Äußerlichen manifestiert (bzw. reintegriert) werden (das nennt man z. B. in der thelemischen Tradition den „magical link“), und zwar mythisch gesprochen als „Tochter Liliths“: Na’amah, „die Liebliche“ oder „Angenehme“.  Das Rote Haar Liliths muss zum Goldblond der Na’amah werden! Die einfachste, aber nicht einzige Möglichkeit für ihre Manifestation durch „Sexualmagie“ ist das Zeugen eines Kindes (insofern ist also auch klar, weshalb Na‘amah – als Frau von Noah – die „Mutter der Menschheit“ sein muss, denn,  sinnbildlich gesprochen: gäbe es nur Lilith, würde nur empfangen werden, aber kein geborenes Kind überleben, lediglich Na’amah kann physisch gebären und das Geborene (wörtlich: die „Natur“) dann auch lebendig halten – ohne das „Liebliche“, ohne Freude ist alles – im Besonderen auch alles Vorgestellte – eigentlich tot; und umgekehrt ist alles „nur“ Vorgestellte, das wahrhaftige, beständige Freude bringt, mindestens genauso real und wertvoll wie alles sinnlich Wahrgenommene – das ist die „Kommende Welt“, zunächst nur als Vorgeschmack). Im destruktiven Fall manifestiert sich die Tochter der Lilith aber nicht als die angenehme, liebliche Na’amah, sondern als Agrath Bath Machlath und/oder als Escheth Znunim. Der Name Agrath Bath Machlath enthält als Wortwurzeln das „Wohnen“, die „Tochter“ bzw. das „Haus“ und das „Entweihen“ bzw. „Durchstechen, Profanisieren“, es könnte also als ein Heimischsein in einer Welt (oder einem Körper) verstanden werden, die entweiht erscheint. Escheth Znunim bedeutet Frau der Hurereien, wobei im Hebräischen das Wort für Frau (wie auch das Wort für Mann) vom „Feuer“ abgeleitet ist – „Feuer der verschiedenen Arten von Hurerei“ wäre demnach eine mögliche, wenn auch etwas freie Übersetzung des Namens. Diese beiden Gefährtinnen – und die „Gefahr“ steckt da ja bereits in der Bezeichnung mit drin – können als die potentiellen Abwege der Arbeit mit dem Archetyp der Lilith verstanden werden. Konstruktiv könnten jedoch auch sie ggf. aufgefasst werden, wenn mit ihnen bewusst gearbeitet wird. Diese Art von Arbeit würde sich ungefähr folgendermaßen darstellen:

  • Die Botschaft des Fleisches

Sexuelle „Devianzen“ werden als eine ganz handfeste, nicht zu leugnende Art von Botschaft interpretiert, indem die betreffenden Praktiken, Szenarien, Beteiligten etc. meditativ in ihrer symbolischen Bedeutung untersucht werden. Diese Bedeutung ergibt sich dabei für den „Sexualmystiker“ (im Unterschied zum erklärten „Sexualmagier“, der auch gezielt auf das Außen wirken will), der seine Neigungen auf diesem Weg als Botschaften zu verstehen sucht, einerseits aus den (weitgehend) allgemeingültigen Bezügen bestimmter Körperteile, Bewegungen, Farben, Verhältnissen usw. zum Göttlichen, wie sie sich schlichtweg aus den Gegebenheiten der Natur herleiten lassen (z. B. „Weiblich = Außen/Erscheinung; Männlich = Innen/Verborgenes“), und andererseits aus den individuellen Prägungen des betreffenden Menschen, wie sie sich aus den kulturell-sozialen Umständen seines bisherigen Erdenlebens ergeben haben („Kinks“, seien sie aus traumatischen, seien sie aus angenehmen früheren Erlebnissen oder allgemeinen kulturellen Gepflogenheiten erwachsen). Wenn wir wollen, können wir diesen beiden Seiten der Symbolik sexueller Devianzen die beiden Gefährtinnen der Lilith zuordnen – dann stünde Escheth Znunim, also das „Feuer der Hurerei“, vielleicht für die Natursymbolik und Agrath Bath Machlath, also „das Wohnen im entweihten Haus“, für die Kulturprägung. Die Frage, die sich jeder für sich selbst stellen muss, ist, was er oder sie aus diesen Botschaften machen will und wer als Absender vermutet wird (wahrscheinlich muss hinter ein und derselben Neigung oder konkreten Fantasie häufig eine Vielzahl an „Absendern“ vermutet werden – der Prozess der Analyse, was woher stammt, ist ein langwieriger und nur begrenzt einem anderen Menschen in Worten überhaupt beschreibbar).

Lilith als Überbegriff dazu (eben als die „Mutter“ von Agrath und Escheth) steht in diesem Sinne also auch schlicht für eine lustorientierte (d. h. nicht primär auf Kinderzeugung ausgerichtete) Sexualität insgesamt bzw. für eine „gestörte“, nicht natürliche Sexualität, wenn man nach dem Muster einiger der etablierten Religionsinstitutionen alle Abweichungen vom unmittelbaren Naturzweck als „Devianzen“ und „Perversionen“ betrachten will. Aber Lilith ist nicht „verantwortlich“ für diese Störung(en), sondern sie ist die Reaktion darauf und ihre heilsamen Aspekte können das Abgespaltene auch einst wieder integrieren. Lilith in ihren konstruktiven Aspekten steht effektiv ein für alle Unterdrückten, Passiven und Leidenden, um ihnen ihre Aktivität zurückzugeben. Damit dient sie speziell allen Frauen (Stichwort: Lilith als „erste Feministin“), aber selbstverständlich auch allem „Weiblichem“ in jedem Mann.

  • Die aufsteigende Schlangenkraft

Beim Beziehen des Lilith-Begriffs auf sexualmagische und/oder sexualmystische Thematiken könnten die verschiedenen Stufen der Lilith als Grundorientierung dienen: Beim inneren Heben der Lebenskraft (auch: Schlangenkraft, „Kundalini-Energie“), die im Zuge sexueller Erregung in Wallung gerät, kann diese der Lilith in allen ihren drei Erscheinungen übergeben werden. Die „profane“ Variante ist das Entladen der Kraft auf Höhe der Geschlechtsteile (im Falle tatsächlicher sexueller Betätigung beim Mann also üblicherweise auch äußerlich in der Ejakulation manifest) – hier hat man die Kraft also derjenigen Lilith zur Verfügung gestellt, die die Gemahlin des Asmodeus ist und dem ganz rohen Trieb zur persönlichen Lustbefriedigung entspricht (das Sexuelle ist immer nur der konzentrierteste Kern des gesamten Lebensvollzugs, im Sinne einer potentiell befruchtenden Begegnung – alle andern Arten von Lustbefriedigung können daher ebenfalls vor diesem Hintergrund aufgefasst werden). Bei der Entladung der Kraft auf Ebene der Körpermitte bzw. des Herzens (oder auch bis hoch ins Hirn, aber nicht darüber hinaus) übergibt man sie derjenigen Lilith, die mit Samael gemeinsam den obersten „Anti-Gott“ verkörpert. Hier verfällt man zwar nicht der primitivsten Begierde im Äußeren, aber klammert sich doch noch an die eigenen Wünsche und Vorstellungen, sodass man sich de facto – trotz einer Befreiung von den Zwängen der materiellen Welt – weiter auf diese Welt beschränkt. Die höchste Form der Lilith, die kosmische Ur-Lilith, wird nur erreicht, wenn die Kraft über den Scheitel hinaus erhoben und so dem „Höheren Willen“ (dem Adam Qadmon) übergeben wird. Dann wird alles eigene Wollen geläutert im Licht von Oben und regnet herab, geschwängert mit allen Segen der Himmel, um wieder auf Höhe des Herzens in die materielle Wirklichkeit des Individuums einzufließen. Und Na’amah erscheint!

  • Die Mutter der Vampire

Hier soll nun aber auch noch – um auch die Gegenbewegung zu der aufsteigenden Lebenskraft zu würdigen – ein kurzer Exkurs zur Vampir-Symbolik gemacht werden. Der Mythos vom Vampir kann naturgemäß vielfältig gedeutet werden, aber im Kontext dieser Ausarbeitung liegt nahe, ihn als Chiffre für das (auch sexuelle) Ausnutzen („Aussaugen“) von Menschen zu sehen. Dennoch soll das Bild des Vampirs hierbei nicht nur im negativen Sinne verstanden werden. Denn wenn wir z. B. als Extremform des Vampirismus die sexuelle Ausbeutung von Wehrlosen, im Besonderen von Kindern betrachten, ist zu konstatieren, dass nicht jeder „Vampir“, der durch ein Gebissenwerden zu einem solchen geworden ist, auch tatsächlich seinem Blutdurst folgt – manch einer entscheidet sich vielmehr bewusst dagegen und nutzt seine „übernatürlichen Fähigkeiten“, die neben dem Blutdurst sonst noch so mit dem Vampirdasein einhergehen, zu möglichst konstruktiven Zwecken (und manch einer, leider Gottes, geht auch an sich selbst zugrunde im Kampf gegen seinen „Blutdurst“). Weiter gesponnen könnte geradezu ein „Netzwerk des Moloch“ erahnt werden, das eine Art okkulte („Vampir“-)Elite innerhalb der Menschheit bildet. Die Mitglieder dieses Netzwerks – also in gewissem Sinne inklusive alle direkt als Opfer (bzw. Überlebende) betroffenen Individuen – stellten demnach so etwas wie die „Drachenblutlinie“ dar – sie sind die eigentlichen „Kinder der Lilith“, wie ja auch in mancher Legende Lilith als die Urmutter aller Vampire bezeichnet wird. Und ob womöglich ein Thema wie RH-negatives Blut („blaues Blut“ – Stichwort „Kindstod im Mutterleib“) ebenfalls in diesen Kontext gehört, sei hier fürs erste nur als weiterführende Frage in den Raum gestellt. Als kleiner Gag am Rande sei hier nur noch darauf hingewiesen, dass „vom Blut der Lilith“ auf Hebräisch  „Mi-DaM LILITh“ heißt – was ein Anagramm zu LaThaLMIDIM ist, dem Namen der Website des hier von Lilith Erzählenden … Zufall??!

  1. Die Königin von Saba und die Weisheit Salomos

Um zum Finale dieser Arbeit überzuleiten, soll nun noch auf die „Königin von Saba“ (oder „Scheba“) eingegangen werden, die ebenfalls als Manifestation der Lilith gilt (vgl. auch im Islam die Figur der Bilqis). In gewisser Weise können in der Königin von Saba, die im biblischen Narrativ im Kontext des Tempelbaus auftritt, und in der fremdländischen Prinzessin, die Salomo später aus seinem Exil mitbringt und zur Königin Israels macht, wiederum Lilith und Na’amah, als die schlussendlich erlöste Lilith, erblickt werden. Besonders von der sprichwörtlichen „Weisheit Salomos“ soll die Königin von Saba begeistert sein und dem König von Israel, um dessen Weisheit zu prüfen, ihr schwierigstes Rätsel stellen …

Auf Hebräisch heißt diese Königin von Saba, die sich mit Salomo also anlässlich des Tempelbaus verbindet und von der die äthiopischen Juden sich herleiten, „Malkath Schwa“ und ihr Name kann auch als „Malkhuth sche-Ba“ gelesen werden, als „das Reich, das da kommt“, also als „die kommende Welt“. Und im mittelalterlichen Deutschland wurde eine andere Welt, in der man sich Lilith und „alle möglichen Monster“ vorgestellt hat, von den Juden raunend als „yene velt“ bezeichnet, ähnlich dem Begriff für die kommende „messianische“ Welt (Olam ha-Ba). Aber die Angst vor Lilith ließ die Versöhnung beider Zerrbilder von Welten, „Dieser und Jener“, bisher selten gelingen und Na’amah in diesem tieferen Verständnis – und vor allem Erleben – konnte noch nicht geboren werden. Heute kann sie vielleicht in mehr Menschen erwachen. Doch dazu muss die Ur-Lilith wieder Teil des Adam Qadmon sein.

Aber wir müssen – gerade betreffs sogenannter Monster – noch einmal etwas weiter zurückschauen im biblischen Narrativ, bevor wir uns mit dem Bau des Tempels auseinandersetzen können, der nach seiner Vollendung dann die Königin von Saba zu Salomo lockt. Anzufangen ist nämlich schon mit dem sogenannten Fall der Engel oder „Gottessöhne“ (bzw. der „Wächter“, siehe z. B. das äthiopische Henochbuch), von dem kurz vor der Sintflut erzählt wird: Gewisse Engel „nahmen sich Menschentöchter zu Weibern, weil sie so schön waren“ – und von diesen Menschentöchtern ist es insbesondere eine gewisse Na’amah (die Schwester von Tubalkain, die später auch Noahs Frau wird), die als Repräsentantin der Lilith hier für die Versuchung selbst dieser Engel sorgt, wodurch erst die Dämonen (oder Djinn oder Schedim oder einfach Geister) entstehen, die dann einst beim Bau des Salomonischen Tempels helfen. Der Tempel steht hier natürlich – für die Interpretation zu unseren Zwecken – am allerwenigsten für ein Gebäude aus Stein als vielmehr für den Mikrokosmos Mensch sowie für den Makrokosmos der ganzen Schöpfung. Salomo entspräche demnach dem Schöpfer, sein Tempelbaumeister (z. B. nach der Erzählung des Testament Salomos) entspricht einer Art Demiurgen-Gottheit oder auch dem Ursprünglichen Menschen. Und dieser beinhaltet eben noch bzw. wieder die Ur-Lilith, auf deren Spuren wir uns hier bewegen. Es ist der „Ring Salomos“, der dem Tempelbaumeister, also dem Adam Qadmon gegeben wird, damit dieser als Avatar des Ewigen wirken kann. Das Ich des Menschen ist in seinem Wesenskern eigentlich identisch mit der kosmischen Vorstellungskraft und dem Prinzip der Dissoziation – man spaltet sich ab von der umgebenden Welt, denn nur so kann der Mensch sich als Individuum erleben. Adam Qadmon muss in die vielen Menschenindividuen zersplittern und einst wieder davon geheilt werden – und mit ihm die ganze Schöpfung; das ist die Wiederaufrichtung der Ewigkeit, der Tiqqun Olam.

Wie eingangs erwähnt, ist es also seit Jahrhunderten „prophezeit“ – wenn auch hiervon nur geflüstert wird von den hohen Eingeweihten: „Salomos Weisheit“ vereint Lilith einst wieder mit dem Ursprünglichen Adam. Um uns diesem Thema jetzt zum Abschluss unserer Meditation über Lilith endlich zu nähern, muss die Geschichte von Salomo und seinem göttlichen Siegelring zumindest in den Grundzügen erzählt werden, die sich im Anschluss an seine Begegnung mit der Königin von Saba ereignet. Man könnte gar das Gebaren Salomos gegenüber dem gefesselten Asmodeus in der folgenden Legende als Versuch des weisen Königs deuten, die Königin von Saba zu beeindrucken … Nachzulesen ist die Geschichte von Salomos Ring z. B. der Grundidee nach im Talmud, weiter ausgearbeitet wurde sie dann in vielen Kommentaren dazu. Sie stellt sich ungefähr so dar:

Salomo hat alles erreicht: Er ist König von Israel, hat Zeit seiner Herrschaft Frieden in seinem Reich erlebt, durfte dem Ewigen einen Tempel auf Erden bauen – und jetzt hat er vermöge seines Heiligen Siegelrings, der ihm auch schon für den Tempelbau beim Bezwingen und Nutzbarmachen der sogenannten Dämonen zu Diensten war, gar den Satan selbst, genauer Asmodeus, in Ketten gelegt und zu seiner Belustigung in seinen Thronsaal zitiert. „Sympathy with the Devil“ ist es nun, die Asmodeus in Salomo zu erzeugen schafft, er appelliert an des mächtigen Königs Mitgefühl, er wolle doch nur ein einziges Mal diesen mächtigen Ring Gottes an seiner Hand spüren – er liege ja in Ketten und könne doch gar nichts damit anrichten! Salomo lässt sich erweichen. Sobald der Satan den Ring in Händen hält, wirft er ihn aus dem Fenster ins Meer. Der König von Israel verliert alle seine Macht, Asmodeus setzt sich für vierzig Jahre auf den Thron Salomos. Der entmachtete Sohn Davids muss flüchten, weil keiner ihm glaubt, dass er doch der wahre König ist. Man droht ihm schon, ihn zu töten, wenn er nicht aufhöre, solche Räuberpistolen zur Unehre des Heiligen Königs zu verbreiten …

Der Satan schafft es also, die Verhältnisse umzudrehen – plötzlich ist Salomo der Böse, verachtet wie einer vom „Otterngezücht“, und Asmodeus produziert sich als der Gute, als der vermeintliche „König von Israel“. In die heutige Sprache übersetzt könnte man sagen: Der Satan sät Zweifel bezüglich des tatsächlichen Charakters des Menschen und redet ihm so ein, ein Böser zu sein, der am besten gerade auf ihn hören sollte, um sich zu bessern – denn der Satan selbst erscheint nun dem sich als „böse“ wahrnehmenden Menschen plötzlich als eine Art Engel des Lichts; er trägt ja den Siegelring Gottes. Auch hier haben wir es daher eigentlich wieder mit der niederen Lilith, der Frau von Asmodeus zu tun, die als Siegelring an ihres Gatten Finger kurzzeitig eine Art Blase in der Realität erzeugt, also einen Ausschnitt des Geschehens dissoziiert, und dann diesen eigentlich nur hypothetischen Moment der Allmacht des Asmodeus zu dem Ergebnis manifestiert, dass Salomo und Asmodeus auch ganz handfest in der äußeren Realität die Rollen tauschen. Zur Folge hat dies, dass der Mensch aus seinem inneren Gleichgewicht gerissen wird und wieder in die Welt zurückgetrieben wird, aus der er sich doch schon so lange eigentlich befreit und erlöst geglaubt hatte. Salomo irrt durch die fremden Länder und versucht, seine einstige Pracht wiederzuerlangen – oder, solange das nicht möglich scheint, zumindest zu begreifen, was der Sinn seines Exils ist. Er schreibt in dieser Zeit das biblische Buch „Prediger“, in dem der bekannte Spruch fällt: „Eitelkeiten der Eitelkeiten, alles ist eitel und nur ein Haschen nach Wind …“ Große Weisheit also erwächst dem Menschen aus diesem neuerlichen Gang hinab durchs Tal der Tränen; Weisheit, die ohne diese Odyssee durch die Fremde nie hätte geborgen werden können. Die jüdische Überlieferung fügt dem noch ein sehr plastisches Bild hinzu: In einem fremden Königreich, namentlich bei den Ammonitern (die neben den Moabitern als Kinder Lots aus Inzest hervorgegangen sind), verliebt sich die Prinzessin Na’amah in Salomo, der sich dort am Königshof gerade als Koch über Wasser hält. Nach einem unvermeidlichen Disput mit dem werten Vater betreffs der unangemessenen Verbindung flieht die Tochter mit ihrem Geliebten aus dem Palast ihres Vaters. Kurz vorm Verhungern schleppen sie sich durch die Fremde, da wird den beiden seitens eines freundlichen Fischers mit einem Fisch ausgeholfen, den jener soeben aus dem Meer gezogen hat. Salomo öffnet diesen Fisch dann, um ihn zuzubereiten, und findet darin … seinen Heiligen Siegelring! Schauen wir uns die traditionellen Deutungen für die Symbolik dieser Legende an, wie sie beispielsweise Friedrich Weinreb, seligen Andenkens, mit uns teilt: Der Fisch ist die Leibseele („Nephesch“, die Lebenskraft) des Menschen, die das Geheimnis des Rings in sich birgt, das aber erst nach Verlassen der Wasserwelt erfahrbar werden kann. Der Ring ist das Ich des Menschen, der geistige Wesenskern, der sich im Laufe des Erdenlebens entfalten soll. Auf den Bezug des menschlichen Ich zum Phänomen der Dissoziation (und damit zur Lilith) sind wir oben schon einmal eingegangen. Das Meer ist die Wasserwelt, die Welt von Zeit und Raum, die dichteste, unterste, materielle Welt, aus der wir herausgefischt werden wollen. Der Wesenskern ist also wiederentdeckt worden, und zwar in der von den Zwängen der Materie befreiten Lebenskraft des Menschen. Sofort ist deshalb alles wieder im rechten Gleichgewicht: Der Satan ist vom Thron Israels gestoßen und Salomo setzt seine neue Frau aus der Fremde, Na’amah, neben sich (vielleicht gar gleichberechtigt?!) auf den Thron als Königin von Israel. Ist das nicht ein deutliches Bild für die Reintegration der Ur-Lilith in den Adam Qadmon?

Was genau aber ist nun „Salomos Weisheit“? Verschiedene Antworten bieten sich an, wenn wir einen Blick auf die Narrative der Bibel, der jüdischen Überlieferung, der islamischen Tradition oder auch von Teilen der Freimaurerei werfen. Im Koran wird Salomo zugeschrieben, mit seinem Ring die Geister zu beherrschen und sie so konstruktiv beim Tempelbau einzusetzen. Das schon erwähnte apokryphe/pseudepigraphische Testament Salomos baut ebenfalls dieses Motiv weiter aus. Aber auch, dass er die Sprachen von Tieren und Pflanzen beherrscht, wird Salomo zugeschrieben, sowohl in der islamischen Tradition als auch in etwas verklausulierter Form in der jüdischen Überlieferung. Der Zohar schließlich, als Hauptwerk der jüdischen Kabbala, bezieht den Begriff der Weisheit Salomos explizit auf die berühmt-berüchtigte Bibelgeschichte, in der Salomo den Streit zweier Huren um ein verstorbenes Baby schlichtet (man beachte auch hier den Lilith-Bezug: „Hure“, „Kindstod“, „Streit“). Isaak Luria interpretiert außerdem Liliths einzige Erwähnung in der Bibel bei Jesaja dahingehend (Kapitel 34; hier sei der Hinweis auf Axel Nitzschke gegeben, seligen Andenkens, der das betreffende Kapitel in seiner Schrift „Huren der Bibel: Lilith“ ausführlich ausdeutet), dass die Formulierung „Lilith wird ihre Ruhe finden“ ein Hinweis auf die Heilung des Adam Qadmon sei, in den die Ur-Lilith reintegriert wird. Und vor diesem Hintergrund interpretiert Luria nun eine bestimmte Zohar-Stelle so, dass er daraus ableitet, in der Heirat Jakobs mit Leah werden die Ur-Lilith und der Ur-Adam miteinander versöhnt – in der Heirat Jakobs mit Rahel sind außerdem der Erste Adam und Eva repräsentiert. So verkörpert die Figur Jakobs, des Stammvaters Israels, nicht nur die Aussöhnung des Ur-Adam mit der Ur-Lilith, sondern zudem die Aussöhnung von Lilith und Eva.

Verstehen wir es richtig? Lilith – mitsamt ihren vermeintlich niederen Aspekten (denn Salomo musste ja auch erst durch Asmodeus ins Exil getrieben werden, um dort seine Na’amah zu finden) – ist selbst die „Weisheit Salomos“, wörtlich auch als „vollkommene Weisheit“ übersetzbar (und „Weisheit“ wird im Hebräischen auch wortspielerisch als „Kraft des Was“ definiert, also als „Kraft des Fragens und Suchens“). Lilith also, die „vollkommene Kraft des Fragens und Suchens“, erlöst sich selbst von ihrem Abgespaltensein – der Adam Qadmon hingegen bleibt stets der auf Sie Angewiesene. Vorstellungskraft empfängt und gebiert, Wille zeugt lediglich. Der Mann gibt nur – das Weib aber nimmt, transformiert und gibt.

Fassen wir zusammen: Lilith in all ihren Gestalten begleitet die Heilsgeschichte der Menschheit seit Anbeginn. Sie umgibt als Ur-Lilith und kosmische Vorstellungskraft den Willen Gottes, den Adam Qadmon. Sie steigt mit dem fallenden Adam hinab als das Weib Samaels, doch durch den Ewigen ihrem Gatten entrissen gebiert sie dann erstmal alle möglichen Geister aus ihren Begegnungen mit den übrigen Wesen der Schöpfung. Als neuen Gemahl nimmt sie sich sodann den Asmodeus und hat mit ihm endlich ihre liebliche Na’amah zur Tochter. Weitere Geister werden der Lilith (nun in Gestalt der Na’amah) mit den Gefallenen Engeln geboren, was die läuternde Sintflut zur Folge hat – und ebenfalls als Na’amah stellt sie dann die Mutter der ganzen nachsintflutlichen Menschheit dar, namentlich als Noahs Frau. Die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch begleitet uns Lilith, sei es als die Mutter der Vampire und Dämonen, sei es als die Kraft unseres menschlichen Vorstellens – und selbst als die Kraft, die hinter unserem menschlichen Ich-Bewusstsein steht. Als die Schutzheilige der Dissoziation, die unerkannte Trösterin der einsam Leidenden ist sie eine Heilige, aber bleibt verkannt von der Masse. Als die aufsteigende Schlangenkraft in jedem Menschen sehnt sie sich danach, den ihr gebührenden Platz an der Seite ihres wahren Gatten vom Urbeginn einzunehmen. Und als die Weisheit Salomos führt sie schließlich über die Begegnung mit der Königin von Saba, also mit der „Kommenden Welt“, zur langen Durchwanderung jenes Exils, aus dem der König Salomo in jedem von uns dann endlich seine Na’amah heimführt – und die Weisheit Salomos ist endlich verwirklicht, die Ur-Lilith wieder mit dem Adam Qadmon vereint.

Doch der hier von Lilith Erzählende verfügt nicht über diese „Weisheit Salomos“ und so kann von der endgültigen Erlösung und Heilung hier noch nicht berichtet werden. Umgekehrt verfügt vielmehr die Weisheit Salomos über den hier Erzählenden – er ist Ihr ausgeliefert und nicht etwa andersherum. G*tt steh‘ ihm bei!