Zum Inhalt springen

Onkel Gins letzter Besuch

3. September 2011

Onkel Gin ist gerade mit nem Tetrapack Ananassaft bei mir vorbeigekommen, und ich bat ihn sogleich auf ein Gläschen herein. Im Kühlschrank fand ich noch etwas Orangensaft und wir mischten uns was zusammen.
Nach der ersten Zigarette fing ich an zu reden:
„Mann, is des ne beschissene Welt, in der wir leben, nich wahr?“
Der alte Mann nickte mir nur zu, als wollte er sagen: „Fahr fort, ich bin ganz Ohr.“
Also holte ich aus, kippte mir noch nen deftigen Schluck Schnapps hinter die Binde.
„Ich mein, warum peilt nicht jeder, dass das schlimmste Übel auf Erden dasjenige is, was die Kinder betrifft?“ – „Mmhhm.“ Nuschelte der Alte in seinen dreckig weißen Bart. Sein Interesse schien sich in Maßen zu halten. Aber immerhin hörte er zu und unterbrach mich nicht.
„Ich mein, wie können die nur alle die Augen verschließen vor dem, was die Psychologie… insbesondere die Psychotraumatologie – auch ruhig in Verbindung mit den neusten Erkenntnissen aus der Neurologie oder wie des heißt – also… vor dem, was die da alles rausfinden und auch – meiner Meinung nach – echt gut beweisen können – wie könn die vor alldem die Augen verschließen??
Ich mein, für mich isses einfach so was von offensichtlich, dass alle Menschen, die was WIRKLICH böses machen, alle in ihrer Kindheit irgendwelche Arten von Traumas erleiden mussten.
Ich mein ich merks an mir selber. Hätt ich bestimmte Sachen nich erleben müssen, wär ich nie so ein Freak geworden. Ich mein, ich hätt dann keine verrückten Gedanken, keine Mordfantasien und son Scheiß. Ich mein, ich kann den Shit ja unter Kontrolle halten, aber ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass das nicht jeder so gut gebackn kricht wie ich.
Und hätt ich nicht vor kurzem endlich Klarheit über bestimmte Sachen erlangt, die mir passiert sind… wer weiß, vielleicht wären meine inneren Aggressionen so schlimm geworden, dass ich tatsächlich ausgetickt wär… könnte sein.
Nur, weil ich jetzt endlich weiß, wer meinen Hass verdient hat – und damit mein ich natürlich jegliche Art von Kinderschändern – nur, weil ich des jetz endlich gepeilt hab, kann ich meine komischen Aggressionen in vernünftige Bahnen lenken.
Was is mit all den armen Seelen, die nie ihre Traumas entdecken?
Keiner hilft denen, und weil sie nichts davon wissen, was los is mit ihnen, können sie sich weder selber helfen, noch Hilfe suchen. Und dann rasten sie aus, vergewaltigen Frauen, belästigen Kinder, töten Menschen.“
Ich blickte meinen Onkel an und erwartete irgendeine Reaktion auf mein Gesagtes, wenigstens einen Blick der deutlich machte, dass er mir noch zuhörte.
Doch er ließ nur ein leises Pfeifen verlauten, während er im Schaukelstuhl vor sich hin schlummerte.
Ich seufzte tief und trank noch einen Schluck von ihm, sein Blut floss warm meine Kehle hinunter und ich schmeckte den salzigen Geschmack von Leid, wie ich es zu oft erfahren hatte.
Ich wischte meinen Mund ab und blickte auf das kümmerliche Wrack eines Mannes hinab, das vor mir lag, um gefressen zu werden.
Ich wollte es nicht tun.
Doch mein Hunger ließ mir keine andere Wahl.
Ich nahm also Messer und Gabel, schnitt Stück für Stück von dem saftigen Steak ab und aß.
Ich aß so gut, wie ich es seit langem nicht getan hatte.
Vielleicht hatte ich sogar noch nie so gut gegessen.
Nachdem ich mein Mahl beendet hatte, griff ich zur Serviette, die so groß war, wie das Segel eines Schiffes, und wischte die Blutkleckse unter dem Tisch weg.
Ich hätte doch geduldiger sein; das Fleisch nicht blutig essen sollen.
Aber egal, die Flecken gehen leicht raus, da sie noch recht frisch sind, und ich werfe die Servietten angeekelt aus dem Fenster.
Ich verfolge ihren Flug zu Boden –
Vom Fenster im 18. Stock aus dauert das schon seine Zeit.
Danach wecke ich den schlafenden Onkel und schmeiße ihn mit eiserner Miene aus meinem Haus.
Er hat mir oft genug Probleme bereitet, ich will endlich frei sein von ihm.
Bin ja auch eigentlich gar nicht blutsverwandt mit ihm.
Doch tief in mir drin weiß ich genau, dass er wieder kommen wird.
Und er wird seine Freunde mitbringen, Jim, Jack, Peter und Gabi und wie sie alle heißen.
Naja, zumindest heute habe ich Stärke bewiesen, oder?
Hmm, immer noch schmeck ich das Blut an meinen Lippen.
Ich sollte mir noch die Zähne putzen, bevor ich schlafen gehe.

From → Kurzgeschichten

Kommentar verfassen

kommentieren

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: