12. Dezember – die Tugend der Einfalt
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Dasselbe war im Anfang bei Gott.
Alles wurde durch dasselbe, und ohne dasselbe wurde auch nicht eines, das geworden ist.
In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.
Vier ganz bestimmte Tugenden der Seele sind für den urchristlichen Einweihungsweg die Voraussetzung, um später über die seelische Selbstveredelung hinaus auch eine geistige Erkenntnis Christi erlangen zu können (ohne dabei auf abstrakte Begrifflichkeiten angewiesen zu sein, dergleichen man in Teilen dieses 24-tägigen ‚Schnupperkurses‘ für die heutige Zeit eben durchaus benötigt, weil der Gang der Menschheit inzwischen 2000 Jahre weiter ist, Menschen sind nicht mehr ‚leichtgläubig‘ in einem positiven Sinn). Diese Vier sind ‚Einfalt‘, ‚Ernst‘, ‚Demut‘ und ‚Ergebenheit‘.
Diese Vier mögen in dem heutigen, so individualistischen ‚Zeitalter des Intellektes‘ also vielleicht zunächst mit Skepsis betrachtet werden, wo sie als erstrebenswerte Charaktereigenschaften genannt sind; klingen sie doch ein bisschen nach ‚dumm, humorlos, mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet und alles-mit-sich-machen-lassend‘. Doch richtig verstanden können sie auch heute noch eine günstige Basis schaffen, die für die höhere Erkenntnis Gottes erforderlich wird, wenn man den Weg über die Empfindungen gehen will, nicht über das abstrakte Verstehen.
Für den heutigen Tag befasse man sich also mit der ‚Einfalt‘. Dieser Begriff meint richtig verstanden nicht einen Mangel an Intelligenz, sondern er meint ein Wiedergewinnen der kindlichen Unbefangenheit: Von grübelndem Denken muss abgelassen werden, Gedanken werden nicht mehr aktiv gefasst, sondern nur mehr registriert und auf die Seele wirken gelassen – ohne sie gleich reflexartig ‚rational‘ einzuordnen. Ob etwas wahr ist oder falsch, entscheidet sich nicht länger allein durch Überlegung, sondern in letzter Konsequenz durch ein Erfühlen des Herzens; Fehler, die hierbei vermeintlich gemacht werden könnten, werden zunächst in Kauf genommen, anerkannt als der Wille des allmächtigen Gottes, dessen Wege eben unergründlich sind. Mit der Zeit wird sich ohnehin ergeben, dass das Herz einem in Entscheidungsfragen oft genug das rationale Nachsinnen empfehlen wird – denn das rationale Denken soll nicht etwa gänzlich eingestellt werden, es soll nur nicht mehr das Standard-Instrument bei der Entscheidungsfindung sein; insbesondere nicht bei der Entscheidungsfindung zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘. Jesus Christus weist im heutigen kurzen Textabschnitt dann auch deutlich auf das Empfindungs-Moment bei aller Wahrheits-Suche hin, wenn er erklärt, was seine Jünger auszeichnet gegenüber den Ungläubigen unter den Israeliten: Sie hören auf ihr Gefühl, auf ihre Erfahrung, auf ihr Herz, sie ‚erkennen die Stimme ihres Hirten und folgen ihr‘.
22Es war damals das Fest der Tempelweihe in Jerusalem und es war Winter.
23Und Jesus ging umher im Tempel in der Halle Salomos.
24Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus.
25Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir.
26Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen.
27Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir;
28und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.
29Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen.
30Ich und der Vater sind eins.
31Da hoben die Juden abermals Steine auf, um ihn zu steinigen.
32Jesus sprach zu ihnen: Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater; um welches dieser Werke willen wollt ihr mich steinigen?
33Die Juden antworteten ihm und sprachen: Um eines guten Werkes willen steinigen wir dich nicht, sondern um der Gotteslästerung willen, denn du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott.
34Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: »Ich habe gesagt: Ihr seid Götter«?
35Wenn er die Götter nennt, zu denen das Wort Gottes geschah – und die Schrift kann doch nicht gebrochen werden –,
36wie sagt ihr dann zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott –, weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn?
37Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt mir nicht;
38tue ich sie aber, so glaubt doch den Werken, wenn ihr mir nicht glauben wollt, damit ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir ist und ich in ihm.
39Da suchten sie abermals, ihn zu ergreifen. Aber er entging ihren Händen.
40Dann ging er wieder fort auf die andere Seite des Jordans an den Ort, wo Johannes zuvor getauft hatte, und blieb dort.
41Und viele kamen zu ihm und sprachen: Johannes hat kein Zeichen getan; aber alles, was Johannes von diesem gesagt hat, das ist wahr.
42Und es glaubten dort viele an ihn.
From → 'Meta' und Aktuelles, Erzählungen, Literatur, Lyrik