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Internetcommunityprofilerstellungsunentschlossenheit

3. September 2011

„Über mich“ heißt das letzte Feld. „Maximal 999 Zeichen.“ Taa… was wollt ihr hören? Denkt er sich. Meinen Lebenslauf? Ein psychologisches Profil? Dann doch am ehesten eine Mischung aus beidem. Sein Blick gleitet verträumt aus dem Fenster. Gedanken überfluten seine Nervenbahnen wie der Main seine Ufer bei Hochwasser. Dann erstarren sie klirrend zu toter Substanz wie die Elbe im norddeutschen Winter, wenn sie mal wieder von massiven Eisplatten erdrückt wird. Um die Blockaden zu überwinden zwingt er sich die Eckpfeiler seines Daseins vors geistige Auge und mit Ach und Krach gelingt es den Eisbrechern, die gefrorene Schicht zu sprengen und ihr eisiges Unteres zu entfesseln. Ich bin fünfundzwanzig. Ich bin stets dem gefolgt, was der Staat als optimalen Bildungsweg vorsieht. Ich steh kurz vor meinem Master in Psychologie an der Johann-Wolfgang-von-Goethe Universität, nachdem ich in Hamburg meinen Bachelor in Allgemeiner Linguistik gemacht habe. Doktortitel ist geplant. Kleine Wohnung. Wenig Geld, aber es reicht. Alleine die meiste Zeit. Und mehr oder weniger froh darüber. Eine sanfte Regung auf seinem Gesicht. Das kalte, klare Wasser erwärmt sich unmerklich. Mit jedem Gedankensprung ein paar Grad mehr, bis die letzten Eisschollen geschmolzen sind und die Strömung wieder ihren gewohnt sprudelnden Gang nimmt. Hass. Sein Leben lang missverstanden. Ignoriert. Belächelt, vielleicht heimlich verlacht. Wer weiß. Paranoid. Ängstlich-vermeidend. Außen hart wie das Leben, das ihn prägte, innen weich wie die Decke, in die er sich nachts schutzsuchend einwickelt. Intelligent. Berechnend, fast schon akribisch vorausplanend. Einsam. Stolz auf sein Leben. Aus Trotz der Welt gegenüber. Immer ein bisschen angespannt. Vor allem, seit er keine Drogen mehr nimmt. Jetzt schon seit vier Jahren, drei Monaten und zwölf Tagen. Immer schon ein Einzelgänger gewesen. Und doch stets einige wenige gute Freunde gehabt. Oder nicht? Waren es nur oberflächliche Bekanntschaften, die eher ein Alibi darstellten, gegenüber dem unverdrängbaren Wissen allein auf diesem Planet zu sein? Wie auch immer. Die Gedanken graben sich immer tiefer in sein Seelenleben vor, gewisse Stellen panisch meidend, aber stetig in Richtung Kern seines Wesens, das er nie begriffen hat oder begreifen wird. Oder begreifen will. Er weiß schon länger, dass da mehr als einer in ihm schlummert. Mehr als zwei, mehr als drei, mehr als zehn. Ja, wahrscheinlich mehr als hunderte. Immer nur darum bemüht, nach außen gute Miene zum abgrundtief bösen Spiel seiner Triebe und Visionen zu machen. Stets jedoch mit der sachten Hoffnung, eines Tages enttarnt zu werden, um endlich die Wahrheit sagen zu können. Sagen zu müssen. Er zündet sich eine Zigarette an. Noch immer hat er kein Wort in das Feld getippt. Zu viel auf einmal, was ihn bewegt, und zu intim, was er hätte schreiben können. Und wie solle er den Text aufbauen? Stichwortartig, wie einen Steckbrief seines Charakters? Oder poetisch formuliert, wie das Bekenntnis einer gepeinigten Dichterseele? Oder nüchtern, wie die Analyse eines Freud-Schülers, selbstreflektierend, wie der Tagebucheintrag eines nachdenklichen Mannes? Er entscheidet sich für den Steckbrief. Nachdenklich ist das erste Wort, das er in die Tasten hämmert, mit dem Stolz, fähig zur Selbstreflexion zu sein. Nachdenklich, realistisch und abwägend. Aber das gefällt ihm nicht als Einstieg. Ich bin zu aller erst mal Ich, und stolz drauf. Das ist es, was er wirklich empfindet. Doch gleich melden sich die quälenden Stimmen in seinem Hinterkopf. Und wer ist dieser „Ich“, Kollege?- Verdammt, lasst mich in Ruhe, ihr verdammten Geister meiner selbst!! Die Hände verkrampfen und der Kiefer spannt sich. Sein leerer Magen meldet sich grummelnd zu Wort, die Eingeweide ziehen sich zusammen, dass er fauchend nach Luft ringen muss. Doch, ich bin stolz, verdammt. Auf was auch immer. Ich lebe noch, das ist doch was. Kopfschmerzen klirren, ziehen wie ein Peitschenhieb vom Scheitel in den Nacken. Hinter seinen Augen steigt der Druck und in der Stirn pocht das Blut durch die Adern. Pulsierender Schmerz fährt ihm durch die Brust, schnürt seine Lungen zu – er springt vom Schreibtischstuhl auf, um sich von den Fesseln zu befreien. Die Knie schlottern in der Erregtheit jeder Faser seines Körpers. Doch Ruhe kehrt wieder ein in seinen Organismus. Der Kaffee und das Nikotin und ihre schwindende Wirkung machen sich nach dieser langen Nacht bemerkbar. Sein Schlafrhythmus ist schon seit Monaten oder Jahren am Verrücktspielen. Mal schläft er ein Wochenende praktisch durch, nur um dann wieder 48 Stunden lang keinen Gedanken ans Hinlegen zu verschwenden. Mal ist er tagelang müde ohne schlafen zu können, dann ist er wieder topp fitt, aber nach
wenigen Stunden bricht die Müdigkeit über ihn herein wie ein bleierner Schleier von unsagbarer Schwere, dass ihn die Trägheit fast im Stehen entschlafen lässt. Und der Hunger. Er kommt und geht, unabhängig von jeglicher Nahrungsaufnahme. Manchmal flattert es ihm in den Ohren, dass er meint, er drehe durch – wenn plötzlich das Herz in seiner Brust in fremdem Takt schlägt und seine Lunge zu explodieren droht. Dann wacht er schweißgebadet aus einem Alptraum auf, nur um festzustellen, dass er gar nicht geschlafen hat, sondern nur mal wieder von seinen inneren Mitbewohnern war vertrieben worden für unbestimmbare Zeit. Schwarze Löcher in seiner Erinnerung. Panikgefühle, die nichts und niemandem zuzuordnen sind, einfach da sind und wieder gehen, als ob sie nie existiert hätten. Aber was denk ich wieder viel zu viel nach – das alles gehört hier sicher nicht hinein! Und er lässt die Hände, die eben noch nervös sein Gesicht am kneten waren, während er in seinen unzähligen Ängsten badete, sanft auf die Tastatur sinken. Vorsichtig beginnt er wieder zu tippen. Vielleicht ein wenig paranoid – Zwinkernder Smiley. Ironisch bis sarkastisch im Humor, ein Liebhaber filmischer Kunst, meine Umwelt stets sorgfältig beobachtend und immer ein Schmunzeln für sie übrig. Kurz gesagt: „Ein Fan der Menschheit“ mit all ihrem Wahnsinn, wie sich schon Al Pacino in „Devil´s Advocate“ in der Figur des Leibhaftigen höchstpersönlich zu unserer Spezies bekennt. Ein geselliger Zeitgenosse für die, die sich mir aufgeschlossen zeigen – und demgegenüber wohl der komischste Kauz für die, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Ein großer Verehrer der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit. Und nicht zuletzt der Gerechtigkeit. Fantasievoll, kreativ – ohne überheblich wirken zu wollen. Ob schreiben, malen, singen – ich liebe es, meinen Gedanken Ausdruck zu verleihen, und wenn sie im Endeffekt keiner nachvollziehen kann oder will. Im allgemeinen träge, aber hin und wieder Momente spontaner Motiviertheit zum Ausgefallenen. Gerne mal allein, aber leider auch oft, wenn dies gerade unmöglich ist. Wenn unausgeschlafen, leicht reizbar, wenn gut drauf, von nichts aus der Ruhe zu bringen. Kettenraucher. Dafür seit einem halben Jahrzehnt trocken. Studierter Philo- und Psychologe. Europäer. Sieben Sprachen sprechend. Ein Musikliebhaber. Von Klassik bis Turbofolk. Zufrieden liest er sich das Geschriebene durch. Dann ein erhabenes Grinsen, zwei Leerzeilen und der letzte Punkt: Gebürtiger Frankfurter. Punkt. Entspannt lehnt sich Max Pluekk zurück. Auch sein knurrender Magen stört ihn grade kein bisschen. Macht er sich halt schnell eine Kleinigkeit. Wie in Trance haut er drei Eier in die Pfanne, raucht eine, während sie vor sich hin brutzeln, und verspeist das Omlette gut gepfeffert. Angenehm satt setzt er sich wieder an den Computer und zündet sich eine weitere Zigarette an. Noch mal alles durchlesen. Sein Antlitz verharrt in gemeißelter Starre, als er die Zeilen überfliegt. Die Kippe brennt runter, ohne dass er groß an ihr zieht – Asche bröckelt zwischen die Tasten des Keyboards. Er nimmt es kaum wahr. Was ist das für eine Scheiße… Ein kaltes Lächeln quält sich über sein ungläubiges Gesicht. Unmerklich schüttelt er den Kopf, als er die noch halbe Zigarette in den Ascher drückt und sich dabei ohne das geringste Zucken verbrennt. Die verrußten Finger fahren ihm kopf kratzend durchs krause Haar und landen beißenden Schmerzes in seinem linken Auge, als ihn plötzlich wieder Müdigkeit befällt, die er sich auf diese Weise wegzuwischen gedenkt. Das penetrante Jucken der Asche auf seiner Netzhaut stört ihn nicht. Er schüttelt nur immer heftiger den Kopf, während unnennbare Wut in ihm aufsteigt, seinen ganzen Leib elektrisiert und seine Sinne verdunkelt, sodass er die altbekannte, so bedrohliche Klarheit wieder wahrnimmt. Zornig schlägt seine Faust auf den Tisch, die leere Kaffeetasse scheppert. „Elende Drecksscheiße!!“ Presst er zwischen den Zähnen hervor und löscht den gesamten Text, den er geschrieben hat. Stattdessen schreibt er nur einen Satz: Fickt euch doch, ihr Huääänsöhne!! Dann legt er sich dröhnenden Kopfes ins Bett und wartet auf den Tod, der nie eintritt.

From → Kurzgeschichten

2 Kommentare
  1. Phillip Wallach Blondheim permalink

    Mein Bruder. Ganz und gar. Du bist Teil der Entschleierung, der Apokalypse.

  2. Wir alle sind Teil, du sagst es! Es geht langsam – aber es geht immer, immer weiter. Schritt für Schritt.

    Friede und Kraft, Bruder.

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